August 30

Warum wir Nicht-Wissen brauchen in einer Welt, die alles weiß

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Warum wir Nicht-Wissen brauchen in einer Welt, die alles weiß

Mystik, Spiritualität | 30. August 2024

Nicht-Wissen oder Unsicherheit ist etwas, mit dem ich mich in vielen bisherigen Rollen im Leben auseinandersetzen musste. Daher hat mich der Aufruf von Bloggerin Susanne Wagner sofort angesprochen, meinen persönlichen Senf dazuzugeben zum Thema Nicht-Wissen. Was dabei herausgekommen ist, ist ein Plädoyer für’s Nicht-Wissen, ein Hoch auf die Unsicherheit (obwohl mir das auch nicht immer ganz geheuer ist 😉).

Nicht-Wissen ist überall

Sowohl als Wissenschaftlerin hatte und habe ich natürlich ständig damit zu tun, dass ich irgendetwas nicht weiß oder etwas herausfinden will. Aber auch damit, dass ich nie alle Antworten finden werde, und jedes neue Forschungsergebnis wieder neue Fragen aufwirft und mit wissenschaftlicher Unsicherheit behaftet ist. In der Spiritualität ist es nicht anders: da habe ich schon mehrmals den Bescheidenheitskeks futtern und zugeben dürfen, dass mein bisheriges Weltbild irgendwie wohl nicht ganz richtig war. Oder dass mich die Überzeugung, irgendetwas zu wissen eher darin behindert hat, wirklich mit dem Herzen hin zu sehen.

Ich finde ja sogar, dass Wissenschaft und Spiritualität in der Hinsicht viele Gemeinsamkeiten haben: in beiden Fällen macht man sich auf die Suche nach der Wahrheit, nur eben mit unterschiedlichen Methoden. Und in beiden Fällen, finde ich, tut man gut daran, nie zu denken, dass man jetzt endlich die Weisheit mit Löffeln gefuttert hätte und alles wüsste. Irgendwie wäre das doch auch langweilig. Wo wäre dann noch Platz für spirituelles Wachstum oder wissenschaftliche Erkenntnis?

Und schließlich sind wir ja auch als Mitglieder der Gesellschaft alle mit Nicht-Wissen konfrontiert. Wir wissen nicht, ob morgen ein Krieg ausbricht. Wir wissen nicht ob Politiker xy die Wahrheit sagt oder ein Versprechen nach der Wahl einlösen wird. Im Zeitalter von künstlicher Intelligenz können wir zum Teil nicht einmal mehr sagen ob ein Foto oder ein Video gefälscht oder echt ist. Oder ob ein Twitter User ein echter Mensch oder ein Bot ist. Und wir wissen natürlich nicht (sicher), was morgen passieren wird. Ob diese oder jene Entscheidung die Richtige für uns ist.

Warum wir Unsicherheit nicht mögen

Und gleichzeitig mögen wir Menschen Unsicherheit ja nicht wirklich. Etwas nicht zu wissen geht schließlich an unser Sicherheitsgefühl, es verunsichert. Manche verabscheuen diese Unsicherheit sogar so sehr, dass sie versuchen, alles in ihrem Leben zu kontrollieren oder abzusichern, einschließlich sich selbst. Die Versicherungsindustrie kann ein Lied davon singen. Dabei heißt Unsicherheit in den allermeisten Fällen ja eigentlich gar nicht primär, dass etwas schief gehen kann, es heißt einfach nur, dass es in alle Richtungen gehen kann. Dass wir also nicht wissen, was passieren wird. Es könnte ja auch gut werden. Das ist ein großer Unterschied, den unser Ego oft vergisst und uns stattdessen gern die Doom-and-gloom-Szenarien ausspuckt. Es will uns ja schützen.

Mit Nicht-Wissen konfrontiert zu sein ist gar nicht so einfach. Es heißt ja, dass wir lernen müssen, mit Unsicherheit umzugehen. Als Wissenschaftler ist das die wissenschaftliche Unsicherheit, die in jedem neuen Ergebnis, jeder neuen Erkenntnis immer auch steckt und die mal größer, mal kleiner ist.
Auf einem spirituellen Weg muss man sich früher oder später eingestehen, dass man eigentlich gar nicht so viel weiß, wie man dachte, während einem jede neue spirituelle Erfahrung demonstriert, dass wir mit unserem Menschheitswissen allenfalls an der Oberfläche kratzen.

Aber warum ist das so schwer für uns? Weil Unsicherheit Vertrauen erfordert. Und die meisten von uns schon so einige Erfahrungen auf dem Buckel haben, die uns gezeigt haben, dass die Dinge auch mal schief gehen können. Dass wir „falsche“ Entscheidungen getroffen haben, irgendwo „falsch“ abgebogen sind. Oder uns einfach scheinbar aus dem Nichts irgendetwas „passiert“. Woher soll man das Vertrauen da nehmen? Und in was soll man überhaupt vertrauen?

Vom (Ur)Vertrauen

Ich habe meine spirituelle Lehrerin mal gefragt, wie man lernen kann, zu vertrauen. Sie schaute mich nur an, und sagte so ungefähr dem Sinn nach, „Natürlich kannst du noch nicht vertrauen. Wo soll das denn herkommen?“ Dann wechselte sie das Thema. Ich fand das damals unglaublich frustrierend 😉.

Einige Zeit später bekam ich gesundheitliche Probleme, die sich über Monate hinzogen. Was ich nicht bekam, waren einfache oder schnelle Antworten, Diagnosen oder Therapien, dafür ganz viel Unsicherheit und Uneindeutigkeit – Nicht-Wissen eben. Ich hatte damals sehr viel Angst. Und musste Vertrauen lernen.

Vertraue ich deswegen heute zu 100 % und in jeder Situation? Sicher nicht. Aber es wird. Und ich habe verstanden, was meine spirituelle Lehrerin damals natürlich schon wusste: Vertrauen lernt man nicht und geht dann seinen Weg, Vertrauen lernt man, indem man seinen Weg geht. Kontrollieren oder mit dem Finger herbeischnippen kann man das nicht. Es gibt auch keine Toolbox, keinen 5-Schritte-Plan oder ein 6-Wochen-Trainingsprogramm dafür (wäre ja zu einfach).

Denn Vertrauen kommt von innen, von Spirit, von der Seele. Das Ego, unser Verstand kann Vertrauen nicht begreifen oder herumkommandieren. Für Vertrauen muss man sich öffnen. Das Herz öffnen. Zulassen. Und das ist ein Lebensweg. Trotzdem gibt es natürlich Dinge, die helfen können. Sich bewusst dafür entscheiden, den Weg der Seele zu gehen, zum Beispiel.

Bescheidenheit heißt nicht Unterwerfung – und warum das wichtig ist

Was aber auf jeden Fall nicht hilft? Alles kontrollieren zu wollen. Zu denken, dass wir alles wüssten, dass man überhaupt alles (vorher) wissen kann. Deswegen gehört für mich auch das Konzept der Demut oder Bescheidenheit (engl.: humility) zum Thema Nicht-Wissen. Die meisten Menschen können das Wort überhaupt nicht leiden, weil sie es mit Unterwerfung oder religiösem Dogma verbinden. Dabei ist es ein unglaublich wichtiges Konzept, gerade in unserer Zeit, in der Wissen so zugänglich ist, dass man sich ganz leicht ein bisschen oberflächliches Scheinwissen zu allen möglichen Themen zusammengooglen kann. Und in einer Zeit, in der viele Menschen so dringend gehört werden möchten, dass sie sich ihr „Wissen“ auch gerne gefragt und ungefragt um die Ohren hauen.

Was meine ich also mit Bescheidenheit? Nach meinem Verständnis ist das die Fähigkeit, anzuerkennen, dass man ein kleiner Wassertropfen in einem großen Ozean ist. Zwar Teil des Ozeans, aber eben nicht der Ozean selbst. Das bedeutet auch, dass man so als kleiner Wassertropfen gar nicht alles überblicken kann. Man ist Teil von etwas Größerem und kann deswegen aus dem kleinen Ego heraus weder alles wissen noch alles kontrollieren. Und - und das kann ja auch eine Erleichterung sein - man muss auch überhaupt nicht alles wissen oder kontrollieren, man darf Dinge auch ein Stück weit abgeben, an dieses Größere, dessen Teil man ja ist, an Spirit.

Und das wiederum erfordert Vertrauen. Und wenn man noch nicht vertrauen kann, zumindest die Bereitschaft, sich einzulassen auf das große Unbekannte. Die Unsicherheit. Und zu erkennen, dass Unsicherheit nicht unser Feind ist. Sondern auch sehr viel Potenzial in sich trägt. Wenn man diese Unsicherheit zulassen kann und nicht verzweifelt versucht, den luftleeren Raum, der durch die Unsicherheit entsteht, gleich wieder mit allem möglichen Scheinwissen vollzustopfen, kann Magisches entstehen.

Vertrauen in die Impulse der Seele – wie wir handlungsfähig bleiben

Man lässt Spirit dann nämlich den Raum, zu wirken, und dann können neue kreative Impulse kommen, von innen. Was dann passiert, wenn man Spirit einfach mal machen lässt, kommt manchmal einem kleinen Wunder gleich (sprich: Probleme lösen sich in Luft auf, wir treffen z.B. jemanden, der uns die Lösung ungefragt präsentiert, stolpern über ein Buch, einen Artikel, eine Nachricht mit der Lösung, oder wir haben einfach einen plötzlichen Perspektivwechsel, der einen ganzen Konflikt für uns löst etc).

Ich kann das wirklich empfehlen: gerade wenn alles um dich herum vielleicht im Chaos versinkt, wenn alle laut und lauter schreien und Recht haben wollen, wenn du nicht mehr weißt, was richtig oder falsch ist: nicht in blinden Aktionismus zu verfallen, sondern selbst ganz ruhig werden. Hinsetzen. Atmen. Ganz still werden. In die Stille lauschen. Und einfach mal schauen, was passiert. Ja, es kann so einfach sein. Je lauter es draußen ist mit dem ganzen „Wissen“, dass auf einen hereinprasselt, desto ruhiger muss es in dir werden. Nur machen wir das oft nicht, weil unser Überlebensmodus automatisch eher in den Flucht-, Kampf- oder Erstarrungsmodus (Fight-Flight-Freeze) verfällt. Und dann schreien wir halt mit oder suchen Sicherheit im Außen, versuchen, mehr Wissen anzusammeln oder Recht zu haben.

Mit der Demut oder Bescheidenheit des Nicht-Alles-Wissen-Könnens können wir stattdessen in solchen Momenten zulassen, dass dieses Größere, nämlich unsere Seele wirken und uns so wichtige Impulse schicken kann, mit denen wir spontan und angemessen handeln können – auch in Druck- und Stresssituationen. Das hat dann auch nichts mit Passivität zu tun oder damit, dass wir alles über uns ergehen lassen. Im Gegenteil – so bleiben wir erst recht handlungsfähig. Denn den Impulsen, die wir von unserer Seele bekommen, wenn wir offen genug dafür sind, müssen wir dann schon auch folgen. Wenn wir nämlich unserer Intuition nicht folgen, dann wird sie mit der Zeit auch leiser, wie ein Muskel, der verkümmert, wenn man ihn nicht mehr trainiert.

Einzige Voraussetzung ist, dass wir die Verbindung zu unserer Seele halten und hinhören und zulassen können. Das eigene Mindset muss in der Lage sein, die Impulse von Spirit wahrzunehmen. Ein Mindset, dass schon alles (besser) weiß, ist dafür nicht aufnahmefähig, es ist verschlossen. Das ist eigentlich in jedem Bereich so. Auch eine Unterhaltung mit unterschiedlichen Meinungen ist schnell zu Ende, wenn keine Offenheit den anderen gegenüber da ist, keine Offenheit, vielleicht auch vom anderen zu lernen oder sich zumindest inspirieren zu lassen. Und neue wissenschaftliche Erkenntnis ist genauso wenig möglich, wenn wir in alten Denkmustern verhaftet sind und nicht mehr offen für andere Interpretationen sein können. All das erfordert, dass wir zugeben können, dass wir möglicherweise nicht alles bereits wissen.

Wie wir mit Nicht-Wissen Brücken bauen

Ich denke, dieser Umgang mit dem Nicht-Wissen hat auch viel mit der Meinungs-Polarisierung zu tun, die wir gerade in der Welt sehen. Damit, dass wir Unsicherheit und Uneindeutigkeit nicht aushalten können in einer zunehmend unsicherer erscheinenden Welt. Und dann fühlen wir uns lieber sicher in dem, wovon wir überzeugt sind, in dem, was wir zu wissen glauben. Und was ja vielleicht auch die Menschen glauben, mit denen wir uns identifizieren.

Wissen kann auch identitätsstiftend sein: Mit einem bestimmten Wissen, oder einer bestimmten Überzeugung, etwas zu wissen, fühlen wir uns denen zugehörig, die Ähnliches wissen oder zu wissen glauben. Anders gesagt: wir bauen uns die Welt ein Stück weit so, wie es uns gefällt, damit wir uns sicher und zugehörig fühlen. Wenn wir anfangen würden, unser Wissen zu hinterfragen, müssten wir das ja aufgeben. Und das ist gar nicht so einfach. Nur führt das eben oft dazu, dass wir zu einseitig denken, Überzeugungen nicht hinterfragen können, unser „Wissen“ zu verteidigen beginnen oder uns von anderen Meinungen abschotten.

Das kreiert Trennung und Trennung steht im Gegensatz zu einem spirituellen Weg, der Verbindung sucht. Das bedeutet, dass wir auf einem spirituellen Weg oft lernen müssen, uns schonungslos ehrlich unserer eigenen Beweggründe bewusst zu werden. Warum bin ich so überzeugt von diesem oder jenem? Warum ist es mir hier wichtiger, Recht zu haben mit meinem „Wissen“ als mit meinem Gegenüber gut auszukommen? Wovor habe ich Angst, wenn ich mir eingestehen müsste, dass meine vorherige Überzeugung falsch war? Wovor habe ich Angst, wenn ich meine Meinung ändere? Fürchte ich Ablehnung? Ausgestoßen zu werden von meiner Gruppe? Wie weit würde ich gehen, um mich (m)einer Gruppe zugehörig fühlen zu können, Freunde nicht zu verlieren oder um nicht bei Kollegen anzuecken? Würde ich überhaupt anecken?

Die eigenen Beweggründe zu kennen ist enorm wichtig auf einem spirituellen Weg. Denn nur, wer weiß, wie er oder sie selbst tickt und warum, kann lernen, sich mehr und mehr von äußeren Erwartungen zu befreien und wirklich nach dem spontanen inneren Impuls der eigenen Seele – und damit der eigenen Wahrheit – zu leben.

Unsicherheit als Raum für Potenzial

Ich glaube, im Leben und auf einem spirituellen Weg sowieso muss es also Raum für Nicht-Wissen, für Unsicherheit geben. Denn wenn wir alles schon wüssten, wo bleibt dann die Suche, das Wundern, das Staunen, das Neugierig- und Gespannt sein, wo bleibt der Raum für neue Erkenntnisse, für Wachstum, für Verletzlichkeit, fürs Ausprobieren und Fehlermachen? Für Kreativität. Für neue Entdeckungen, für Abenteuer, für spontane Impulse, für Intuition? Für Zusammenarbeit und Kooperation? Wüssten wir alles (schon vorher) bräuchten wir das doch alles nicht. Wir wären abgeklärt. Und das Leben ziemlich langweilig und einsam.

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  1. Liebe Dorothee
    Herzlichen Dank für deinen Beitrag zu meiner Blogparade zum Thema #NichtWissen! Ich freue mich riesig über deinen Ansatz und bin als Atemtherapeutin ganz deiner Meinung:
    «Hinsetzen. Atmen. Ganz still werden. In die Stille lauschen. Und einfach mal schauen, was passiert. Ja, es kann so einfach sein.»
    Da war ich doch letztes Wochenende kurz weg, an einem wunderbaren Ort mit viel Spirit und freute mich sehr, bei der Rückkehr in den meinen Alltag festzustellen, dass du zum Thema Nichtwissen gebloggt hast!
    Auf ein spannendes und aufregendes Leben!
    Atemgruss von
    Susanne

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