Über das Thema Mystik zu schreiben, fällt mir nicht leicht, obwohl der Gedanke schon länger in meinem Kopf herumwabert, mich dem Ganzen zumindest mal anzunähern. Allerdings fühle ich mich fast wie ein Imposter, über etwas schreiben zu wollen, von dem mein limitierter Verstand weiß, dass er es nicht begriffen hat. Mein Verstand wehrt sich, diesen Artikel zu schreiben, denn mit meinem wissenschaftlichen Background hat er gelernt, nur über Dinge zu schreiben, die er verstanden, vollständig erfasst hat, oder über die ich mich doch zumindest vorher gründlich schlau gemacht habe.
Mystik ist etwas so Großes, Geheimnisvolles (sonst hieße es ja nicht so 😉), dass mein Verstand davor kapituliert. Warum schreibe ich trotzdem darüber? Ich fühle das starke Bedürfnis es zu tun, vielleicht fast so etwas wie einen „mystischen Impuls“. Und das macht nicht immer Sinn. Aber ich habe gelernt (oder lerne es täglich wieder), zu vertrauen, wenn so ein Bedürfnis nicht weggeht, es im Gegenteil immer stärker wird. Seht es mir also nach, wenn ich hier ein wenig nach Worten ringe. Ich möchte mit einer eigenen Erfahrung beginnen, die schon einige Jahre zurückliegt, und die außergewöhnlich war, vielleicht mystisch. Und dann mal sehen, wo mich – und euch – das hinführt. Ich vertraue dem großen Mysterium, dem Mystiker in mir einfach mal.
Eine mystische Erfahrung in Thailand
Ich war mit einer Freundin im Urlaub in Thailand. Es war spät abends, wir waren im Hotelzimmer und hatten uns schlafen gelegt. Um es gleich vorweg zu nehmen: wir hatten nichts getrunken oder sonst irgendetwas „konsumiert“. Ich hatte auch nicht zu wenig Wasser getrunken oder zu viel Sonne abbekommen, ich hatte meine halbe Kindheit in Asien verbracht und war auch keine 16 mehr, kannte also meine Grenzen. Ich war also in jeglicher Hinsicht in einem stabilen, normal-gesunden Zustand (das sind ja die Gedanken, die man sich erstmal so macht 😉).
Wir lagen also im Bett - so dachte ich zumindest. Es war dunkel, aber dank des Mondlichts noch hell genug, dass man alles gut erkennen konnte. Ich konnte nicht direkt einschlafen und als ich auf die Seite des Zimmers herüberblickte, wo meine Freundin „schlief“, sah ich, dass sie offenbar aufgestanden war und am Tisch mitten im Zimmer stand. Ich dachte zuerst, dass sie sich vielleicht etwas zu trinken holen wollte, aber sie stand einfach nur unbewegt da. Ich starrte sie an, und überlegte, ob sie vielleicht schlafwandelte. Da sie sich aber weiterhin nicht bewegte, begann mir das Ganze seltsam vorzukommen. Im Nachhinein wundert es mich immer noch, dass ich gar keine Angst hatte und auch überhaupt nicht auf die Idee kam, dass es nicht meine Freundin sein könnte.
Aber mein Gehirn begann, nach Erklärungen zu suchen. Ich blickte zum Bett meiner Freundin herüber und nun wurde es wirklich merkwürdig. Es sah im Mondlicht eigentlich so aus, als läge sie dort. Die nächsten Minuten(?) konnte ich meinem Gehirn dabei zusehen, wie es versuchte, eine sinnvolle Erklärung zu finden – seltsamerweise hatte ich immer noch keine Angst. Ich schaute vom Bett zur stehenden Gestalt und wieder zurück. Sie lag da UND sie stand da. Gleichzeitig. Und mein Denkprozess fühlte sich wirklich unendlich langsam an, so als wäre mein Bewusstsein einen Moment aus der Zeit herausgetreten, um begreifen zu können. Es – machte – keinen – Sinn. In dem Moment kam die Panik. Und in meiner Panik rief ich laut den Namen meiner Freundin. Ihr verschlafenes „Mhm?“ kam vom Bett. In dem Moment verschwand die Gestalt. Einfach so. Danach war die Angst definitiv da und einschlafen konnte ich eine Weile nicht mehr. Aber spätestens nach dieser Erfahrung wusste ich sicher, dass es da etwas Geheimnisvolles hinter der uns bekannten Realität gibt, was wir absolut noch nicht verstanden haben.
Die leiseren Erfahrungen
Dieses Erlebnis ist viele Jahre her und es kamen danach noch eine ganze Reihe weiterer dazu. Mystische Erfahrungen kommen aber nicht unbedingt immer mit Pauken und Trompeten. Manche sind eher „leise“ und dadurch schwer zu vermitteln: Wenn ich zum Beispiel einen Käfer auf meiner Hand sitzen sehe und mein Herz aufgeht, weil ich die Verbindung zwischen mir und dem Käfer fühlen kann. Wenn ich in dem Moment Liebe für dieses winzige Lebewesen empfinde, obwohl wir scheinbar nichts gemeinsam haben, da doch die Erfahrung dieses Käfers so weit weg von meiner eigenen zu sein scheint. In dem Moment aber, in dem ich dieses verbindende Element, das ich in mir trage, auch in diesem Käfer erkennen kann: In dem Moment weiß ich, dass wir alle miteinander verbunden sind und dass das Prinzip der Einheit wahr ist. Das ist Mystik.
Ich habe das Gefühl, dass viele denken, Mystik sei ihr Tarot-Kartendeck, Astrologie, Human Design, Meditation, Traumarbeit, Trancearbeit... Aber das ist nicht, was Mystik ist. Ich denke, das können – nicht müssen! – lediglich Zugangswege sein zu etwas, was tiefer liegt und sich unserem Verstand entzieht. Mystik ist sicherlich auch nicht das Außergewöhnliche, das wir vielleicht mal erfahren dürfen auf einem spirituellen Weg. Solche Erfahrungen sind lediglich die Wegweiser, die uns den Weg zeigen können zu etwas, was wir nicht sehen, nicht anfassen und kaum beschreiben können. In meinem Fall glaube ich, dass ich ein paar „extremere“ Erfahrungen machen musste, weil ich mich sonst nie einer anderen Vorstellung von Realität hätte öffnen können. Oder die Idee hätte zulassen können, dass es eine tieferliegende Wahrheit gibt, ein Mysterium, dem wir uns vielleicht annähern können. Und dass dieses Mysterium gleichzeitig unser – unbegreifbares – Zuhause ist.
Ich glaube, wir können nicht wirklich begreifen, was viel größer ist als jeder einzelne von uns, was wir mit unserem begrenzten Verstand nicht erfassen können. Aber was wir können, ist, den Wegweisern zu folgen, die unsere Seele überall für uns aufstellt, damit wir den Weg nach Hause wieder finden können. Und für den Mystiker, der Augen und ein offenes Herz hat, um damit hinzusehen, oder Ohren, um hinzuhören, sind die Wegweiser überall.
Der Weg des Mystikers - Die Kontrolle abgeben
Womit viele, einschließlich mir selbst, bei dem Thema Mystik sicherlich auch Schwierigkeiten haben, ist die Anerkennung, dass wir nicht alles wissen und verstehen können und daher nicht die vollständige Kontrolle haben oder auch nur haben sollten. Schließlich bedeutet der Begriff Mystik ja, dass es sich um ein unergründliches Geheimnis handelt. Sich vor dem tieferen Mysterium hinter allem, dem Nicht-Wissen-Können, zu verneigen ist Ausdruck von Bescheidenheit bzw. Demut (humility), ein Wort, das nicht bedeutet, dass wir uns klein machen, unterwerfen oder gar schämen müssten (humiliation). Darum geht es nicht.
Sondern es ist ein Gefühl, das anerkennt, dass wir nicht alles kontrollieren und verstehen können, da es da etwas Größeres gibt, mit dem wir aber irgendwie verbunden sind. Ich vergleiche das immer ein bisschen mit dem Staunen, das ein Kleinkind darüber empfindet, was die Eltern Großartiges können oder wissen. Und wir würden ja auch nicht sagen, dass das etwas Beschämendes für das Kleinkind wäre, dass es sich hier gar unterwerfen würde oder sich behaupten müsste. Es ist einfach die Anerkennung einer gefühlten tieferen Wahrheit. Und irgendwie ist das doch auch ein kleines bisschen erleichternd, denn das bedeutet nicht nur, dass wir nicht alles kontrollieren können, es bedeutet eben auch, dass wir nicht alles kontrollieren müssen.
Wie wir einen Zugang finden
Und gleichzeitig ist Mystik eigentlich nichts Abgehobenes. Denn – so ist es zumindest bei mir - die Beschäftigung damit entwickelt die Fähigkeit, das Mysterium in allem zu erkennen, was um dich herum ist, in den Augen eines geliebten Menschen, im Rascheln des Windes in den Bäumen, im Murmeln eines Baches. Deswegen gibt es z.B. die Naturmystiker (z.B. Richard Jefferies) und die Idee von der beseelten Natur, die auch in vielen indigenen Völkern bis heute vorherrscht. Auch Kinder haben diese Idee oft noch sehr stark, bevor sie sie verlieren. Wenn sie zum Beispiel einer Wolke Gefühle zuschreiben oder einen Baum als ihren Freund ansehen, schauen sie mit den Augen eines (Natur-)Mystikers auf die Welt. Mit den Augen eines Mystikers zu sehen, bedeutet also auch, das wiederzuerkennen, was Kinder (häufig) noch sehen können: dass das große Mysterium überall ist und in allem Leben gesehen, erkannt und gefühlt werden kann.
Und um dieses Gefühl von kindlichem Staunen geht es. Das Gefühl von einem „Von-Innen-bewegt-werden“ von etwas, einer mystischen Kraft, das Gefühl, wenn dein Herz aufgeht und Freude und Staunen hereinkommen, das ist der Moment, wenn dieses Mysterium sich in DIR bemerkbar macht. Denn wir alle sind ja ein Teil davon. Wir sind keine abgetrennten Beobachter dieser Welt, wie kindliche Wissenschaftler, die mit Lupe und Notizblock losziehen und die Welt zu begreifen versuchen, die aber eigentlich nichts mit uns zu tun hat. Nein, wir sind zusammen mit der für uns sichtbaren Welt um uns herum selbst Teil dieses Mysteriums.
Und ich denke, genau das ist der Grund, warum es immer darum geht, nach innen zu gehen, sich selbst kennenzulernen (s. auch hier mein Artikel dazu, warum das so wichtig ist). Nicht, damit wir unser Ego füttern und einer falschen Vorstellung von „höher, weiter, besser“ nachjagen können – nein, wir selbst und unser eigenes Bewusstsein sind wie ein Portal zu diesem Mysterium. Denn das mag zwar viel größer sein als wir selbst, aber wir sind ein Teil davon, und deswegen haben wir Zugang dazu.
Wenn dich Mystik fasziniert, bedeutet es also nicht unbedingt, dass du dir jetzt ein Tarotkartendeck kaufen oder einen Astrologiekurs belegen musst. Ganz im Gegenteil, wenn diese Dinge dich vom Wesentlichen ablenken, nämlich dem Weg nach innen, dann sind sie eben nur das: eine Ablenkung. Es bedeutet, dass du deinen ganz persönlichen Zugangsweg zu diesem tieferliegenden größeren Mysterium findest, dass du einen Weg findest, mit dem Herzen hinzuschauen und nicht mehr so sehr nur mit dem Verstand, um das zu sehen, was die Augen nicht sehen können. Egal wie du das anstellst.
We walk each other home
Und das ist ein ganz persönlicher Weg, für den du eigentlich keinerlei Regelwerk benötigst, denn du bist das Regelwerk. Du bist selbst das Portal, die Tür dazu. Dein Bewusstsein macht es möglich. Aber sehr wahrscheinlich wirst du auf dem Weg Wegweiser brauchen, die dir deine Seele vielleicht in Zusammenarbeit mit einem spirituellen Lehrer oder Mystiker, und vielen vielen Wegbegleitern und Seelengefährten im Leben aufstellen können. Und diese Wegweiser und Erfahrungen können dich immer wieder zurück auf den Weg bringen, wenn du dich doch einmal verirrst. Denn diesen Weg geht niemand völlig allein. Frei nach dem sehr schönen Motto: „We walk each other home.“ (Wir begleiten einander nach Hause.“)
Mystik in Aktion
Und dann kann es eben sein, dass man dieses Mysterium in Aktion erlebt, wenn man zum Beispiel eine mystische Erfahrung machen darf, wie ich sie oben geschildert habe. Oder aber auch, wenn man in einer Aufstellung steht, und die Macht des Feldes erlebt, und erlebt, wie jemand zum ersten Mal im Leben mit mitfühlenden Augen auf eine Situation schauen kann. Wenn man erlebt, wie sich das Herz öffnet bei jemandem, der zum ersten Mal die Perspektive des anderen sehen und verstehen kann. Wenn die wohlwollende Kraft dieses Mysteriums, die uns alle miteinander verbindet, so fühl- und erfahrbar wird, dass wir uns nur noch in Demut vor ihr verneigen und sie wirken lassen können. Wenn unser Ego-Verstand endlich mal den Weg frei macht, damit wir uns bewegen lassen können von dieser Kraft. Das ist Mystik in Aktion.